Die Glocke, deren Nachhall durch die Korridore läuft wie durch eine Kathedrale, verkündet die alltägliche Eröffnung…
Die Glocke, deren Nachhall durch die Korridore läuft wie durch eine Kathedrale, verkündet die alltägliche Eröffnung. Der ausgehungerte Schein der Leuchtröhren, die die kahlen Betonwände erhellen, ist totenbleich. Aus der Tiefe des Baus erklingt das undeutliche Gewirr dutzender Füße, die ruhig, doch schnellen Schrittes, die tiefen Tunnel durchstreifen, von allen Seiten auf die Mitte des Gebildes zuströmend. Selbst der dichte Teppich, der die gesamten Flure bedeckt, kann das Dröhnen nicht verschlucken; verhindert nicht, dass das Dröhnen der Menge ausläuft wie eine Welle, die durch die Gänge schwemmt.
Ehrfürchtig hält der Pulk vor den hohen gemaserten Türen, die bereits offenstehen. Aus der Gruppe lösen sich Einzelne, unverkennbare Individuen, die eben noch kaum mehr als das Fußpaar eines menschgewordenen Tausendfüßlers gewesen zu sein schienen, und schreiten erhobenen Hauptes durchs Portal. Die meisten gehen allein; manche führen einen Begleiter, eingehakt oder Hand in Hand. Sie alle, die die Menge hinter sich gelassen haben, befinden sich nun in einem hohen Raum. Er ist lichtdurchflutet, frisch und angenehm klimatisiert. Im Hintergrund ist das leise Surren einer Maschine zu vernehmen. Der Parkettboden trägt die leichten Kratzer mit Stolz, während die perfekt-reinen Wände unter dem Licht eines altertümlichen Kronleuchters jadegrün schimmern. Der Raum ist weit; die Individuen und Paare brauchen sich nie auszuweichen. Die Decke ist so hoch, dass der Kronleuchter zu einem sonnenartigen Objekt am Firmament verläuft. Die Menschen gehen schweigend und betrachten. An den Wänden, in dicken Rahmen – teils weiß, teils braun; mal hochkant und mal längs -, sind Fenster, die nach draußen zeigen. Neben den Rahmen sind stets Plaketten angebracht, die über den Ursprung und den Titel eines jeden Ausblicks informieren. Ein junger Mann steht vor einem vertikalen Fenster, hinter dem ein lodernder Fabrikschlot den halben Himmel verdeckt, während viele kleine Punkte – es sollen wohl Menschen sein -, zu seinen Füßen ihrer Arbeit nachgehen. Ein älteres Paar schaut verträumt, als schwelgte es, durch ein großes altes Glas, das durch den Rahmen in vier gleiche Kacheln geteilt ist. Dahinter ein vereister See, und ein paar kahle Bäume. Knapp rechts davon ein Hund, der ruhig durch den Schnee spaziert, dem Herrchen folgend. Eine Frau im geistlichen Gewand steht vor dem größten Fenster. Es ist bunt; das Licht spielt darin eine Harmonie. Hindurch sind nur Wolken zu sehen und ein Himmel, der womöglich blau wäre.
Sie alle, die durch dieses Zimmer schreiten, betrachten im Vorbeigehen die meisten Fenster, bis sie das eine finden, dass sie bannt. Dann stehen sie davor, ganz regungslos, und starren; nehmen auf; verinnerlichen das Gefühl. Sie haben nicht viel Zeit; die Zahl der Fenster ist begrenzt. Die Menge vorm Portal tritt unruhig von einem Bein aufs andre Dutzend. Und wenn sie durch den mahnenden Blick einer Wachfrau auf das Ende ihres Ausflugs hingewiesen werden, hängen fast alle noch einen Moment am Ausblick. Drehen im Weggehen den Kopf. Versuchen, sich mit ihren Augen eine weitere Sekunde der Wonne zu erstehlen.
Dann endet es. Kurz sind sie noch allein. Ihr Blick geradeaus, die Schultern breit, den Kopf erhoben, verlassen sie durch das Portal den Saal. Dann stoßen sie zurück zur Menge, deren Bestand sich indes wohl verändert haben mag. Sie halten fest am Ausblick aus dem Fenster, das mehr als alle andren zu ihnen sprach. Und dann vergessen sie. Und wenn der Gong erneut erklingt, verlassen sie gemeinsam mit der Meute, den fahlerleuchteten Korridoren folgend, das Museum.