Die bisherigen tausend Lichtjahre gingen sie wie auf Wolken, doch auf den letzten Metern begann der Grund sich gegen ihre Schritte zu wehren…

Die bisherigen tausend Lichtjahre gingen sie wie auf Wolken, doch auf den letzten Metern begann der Grund sich gegen ihre Schritte zu wehren. Zuerst war da ein Sandkorn unter ihrem Schuh, dann wehte eine Staubwolke an ihm vorbei, und schließlich stiegen die beiden, Hand in Hand, eine Sanddüne empor. Sie war flach und ruhig, aber nach der ewigen Reise durchs Nichts waren sie es nicht mehr gewohnt, festen Boden unter ihren Füßen zu spüren und mussten sich anstrengen, um sie zu erklimmen. Sie hielten inne und schauten nach oben; immer weiter und weiter, entlang der unendlich scheinenden Mauer, die sich vor ihnen auftürmte. Sie schien so allumfassend wie der blaue Himmel auf Erden, den sie vor so langer Zeit zuletzt gesehen hatten. Hoch droben ließen sich Zinnen und Türme erahnen; erahnen, deshalb, weil die Kurve des Horizonts sie ihren Blicken entzog. Kleine undurchsichtige Fenster waren hier und da in das Mauerwerk eingelassen. Dabei schien ihre Existenz schon unmöglich, denn der gesamte Wall bestand aus nichts als Sand; dem gleichen, der den Kindern zu Füßen lag. Beisammengehalten durch eine unlogische Kraft und geformt durch die Hände göttlicher Wesen prunkte die Festung inmitten der sandlosen Wüste des Weltalls.

Das Mädchen machte einen Schritt auf die Mauer zu, die Hand ihres Bruders loslassend, und blieb direkt vor ihr stehen. Mit schiefgelegtem Kopf betrachtete sie das Relief der Millionen von Sandkörnern, bis sie sich endlich entschloss, ihre Finger über sie gleiten zu lassen. Noch ehe ihr Bruder einen Einwand hätte einbringen können, war ihre Hand auf der rauen Fläche. Langsam wischte sie drüber, und der Sand gehorchte. Es öffnete sich eine Tür; ein Durchgang, etwa so groß wie sie selbst und gestützt von einem prächtigen Rahmen, wie man ihn in einem Klosterdurchgang erwarten würde. Im Innern der Feste wehte der Sturm, ruhig, aber beständig genug, um den neugierigen Blick in den Hof zu verwehren. Die Schwester schaute sich um und ihr Ausdruck genügte, um ihn zu überreden. Sie waren schon so weit gekommen und hatten so viel gesehen, dass sie die Angst vergessen hatten. Er holte auf und ergriff erneut ihre Hand, ungewiss, ob ihr oder sich selbst zu Liebe, und machte den entscheidenden Schritt durchs Portal.

Im Inneren war alles anders. Hatten sie bisher fast ihr gesamtes Leben über die ohrenbetäubende Stille des Weltraums von allen Seiten zugleich empfunden, so war die Stille, die sie nun in ihrem Rücken spürten, eine andere. Diese Klanglosigkeit fühlte sich so schwer an, wie der Boden unter ihren Füßen es vor einigen Augenblicken erstmals getan hatte. Hier drin waren sie im Auge des Sturms und der Wind, der ihnen eben noch die Sicht vernebelte, schien eins zu sein mit der Mauer, die fest und regungslos stand; ein Stein und ein Fluss ineinander vereint.

Das Mädchen schaute zu ihren Füßen und entdeckte, dass der Sand mit jedem gedachten Schritt nach vorne gröber wurde, und seine Partikel größer. Was unter ihr noch weich und zermahlen wie Puder wirkte, war zwei Fuß entfernt schon wie Kiesel, und fünf weiter waren es die abgeschmirgelten Reste allerlei Gegenstände. Gestapelt und gehäuft lagen Brillen, Uhren, Zinnsoldaten und Blechbüchsen, Notizhefte und Ohrringe, Kuscheltiere und Regenschirme. In der Mitte des Platzes erkannte sie im thronenden Hügel die Silhouetten von formlosen Dingen. Konzepten und Erinnerungen. Prinzipien und Traditionen. Liebsten und Ungeliebten. Wortlos schaute sie zu ihrem Bruder rüber, der im gleichen Atemzug mit ihr den Raum las und versuchte, sich einen Reim auf dieses Bild zu machen. Vorsichtig gingen sie ein paar Schritte, aus der Unbeschwertheit des abstrakten Sandmehls unter ihren Schuhsohlen hinaus und rüber zu den stechenden und rutschenden Häufchen an Realität. Er hob eine Uhr an und drehte sie in seinen Händen; studierte die meisterlich geschnitzten Zeiger und bemerkte das eingravierte Portrait auf der Rückseite. Sie zog ein Tagebuch hervor und schämte sich, auf der erstbesten Seite die Liebeserklärung einer jungen Frau zu lesen. Mit geröteten Wangen ließ sie das Buch fallen und trottete weiter durch die Halde, hinein in ihre Mitte.

Die Dinge, die sie umgaben waren alltäglich und gewöhnlich, so dass sie ihnen schon bald, nachdem sie sich mit ihrer schieren Präsenz abgefunden hatte, keine große Beachtung mehr schenkte. Was ihr mehr zu schaffen machte, waren die dunklen Umrisse der Konzepte, die sie erkannte, ohne sie recht zu sehen. Hier hörte sie leise Stimmen und Landschaftsgeräusche, Getier und das Geratter dutzender Autos, die die Straßen in ihrer nun schon so fernen Heimat durchquerten. Im Klanggewirr ergab nichts einen Sinn, doch das Kind begriff trotzdem.

Als sie einen Schritt auf ihren Bruder zu machte, bemerkte sie plötzlich, wie ihre Schuhsohle sich auflöste und der warme Sand ihre Haut berührte. So weit hatten diese Schuhe sie nun schon getragen, und nun ging es mit ihnen zu Ende. Vorsichtig machte sie einen zweiten Schritt und spürte das schmerzlose Schürfen des Sandes an ihrem Fuß. Sie hob ihre Hände zum Mund und schrie zu ihm rüber: “Ich habe verstanden, Bruder!” – “Was meinst du?”, rief er zurück. “Wo wir sind. Was das ist”. Der Junge zog am Griff eines Regenschirms und drückte ab, doch statt dass die Plane sich spannte, schoss nur das Gerippe hervor und spreizte seine Flügel. “Und wo?”, rief er fast schon beiläufig.

“Wir sind in Vergessenheit geraten”, sagte das Mädchen.

Der Junge schaute erschrocken zu ihr empor und setzte sich in Bewegung noch ehe sie ihn hätte warnen können. Seine Schuhe zerfielen zu Staub, als er sie erreichte und eine Träne deutete sich in seinen Augen an. Sie nahm ihn fest in den Arm und streichelte seinen Rücken. “Der Zahn der Zeit mahlt an uns, Bruder. Bald werden auch wir zerfallen und Teil dieser Mauer sein und Teil des Windes, der diese Mauer ist.”

– “Ich habe Angst, Schwester,” antwortete er und umarmte sie fester.
– “Keine Sorge,” flüsterte sie, “wir sind zusammen gekommen; einander vergessen wir nie.”