Tagebuch eines Zugreisenden
Der Zug: ein Fenster mit immerzu wechselndem Ausblick.
16. Februar
Das Wasser rinnt zu meiner Linken am Fenster herab und lässt die Formen des tristen Bahnsteigs tanzen. Ich habe mich noch immer nicht ganz daran gewöhnt, fernab meines trauten Tisches zu schreiben. Unbeholfen decke ich stets meinen Notizblock zu, wenn ein Mitreisender an mir vorbei zu seinem Platz geht. Es ist zu früh, um mich zu offenbaren, die Gedanken sind noch nicht erwachsen; sind auf meine Hilfe angewiesen.
Erst, als wir uns in Bewegung setzen, und keiner mehr durch den Gang spaziert, lasse ich mich vom regelmäßigen Schnauben des Zuges in Ruhe versetzen. Mein Blick wandert zum Fenster hinaus; verabschiedet den zurückbleibenden Bahnhof und fliegt in begeisterter Freiheit über die Dächer der Stadt hinweg, immer mehr Fahrt aufnehmend. Ich lächle. Sofort springen mir tausende Dinge ins Auge, und wollen aufgenommen und verarbeitet werden. Meine Hand kommt kaum hinterher, das Gesehene aufzuschreiben, so gierig springt mein Blick von Mauer zu Mauer; vom ersten Laub eines Baums zum nackten Geäst seines eifersüchtigen Nachbarn; von den Tauben auf den Dächern zu denen in der Luft. Meine Handschrift verwandelt sich; wird wirr und unbeholfen. Die Gedanken folgen keiner klaren Form, sondern überschlagen sich — der steile Abgang verwandelt sich zunehmend in ein Poltern. Der Flug in einen freien Fall.
Plötzlich fürchte ich mich.
Aus Angst vor der Überlastung schließe ich die Lider, aber die Eindrücke sammeln sich noch einige ewige Sekunden lang, wie ein unbarmherziges Echo. Langsam drehe ich mich, immer noch blindlings, vom Fenster weg und führe meine linke Hand zu meiner Schläfe. Erst mit dieser Scheuklappe traue ich mich, wieder zu sehen. Vor mir liegt ein Notizblock. Die offene Seite ist datiert, die ersten Zeilen feinsäuberlich verfasst. Durch das Wort „Luft“ aber geht ein Ruck; das Wort liegt, wie in Schmerzen gewunden, verzerrt auf dem Papier und zieht eine Reihe immer entstellter geschriebener Fragmente nach sich. Nach unten hin verzieht sich das Schriftbild endgültig zum Abstrakten, und erinnert ein wenig an das Kaleidoskop des Regenstroms vor wenigen Minuten.
Ich atme tief und überblättere mein Missgeschick. Mit der unvoreingenommenen neuen Seite wende ich mich diesmal meinen Mitreisenden zu:
Eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter sitzt mir gegenüber und liest aus einem Buch vor. Die Kleine drückt sich so fest an sie, wie es ihre Kraft erlaubt. Mit ganzer Konzentration klebt sie an den Lippen ihrer Mutter, manche Worte leise mitmimend. Sobald sie die Heldin in Gefahr wähnt, weiten sich ihre Pupillen, und ihre Finger versinken noch tiefer in den Falten des Ärmels der Erzählenden. Ich betrachte das Paar und lächle wieder, anders als zuvor. Nach innen. Dann, nach einem Augenblick des Schwelgens, erinnere ich mich an den Zweck dieser Reise und suche die Worte, die das mir gebotene Bild beschreiben könnten. Das beständige Wanken des Zuges bringt ein seichtes Zittern in meine Schrift, als stünde sie unter Strom. Eigentlich sogar ganz schön, denke ich, und betrachte die Aufzeichnungen.
„Die Mutter, ihr Kind wie unter ihrem Flügel geborgen, macht mit einer Geschichte Mut und gibt Hoffnung.“
Lange schwebt meine Hand über diesem Satz, unzufrieden; abwägend. Schließlich streiche ich das Überflüssige und reduziere. Zweiter Versuch.
„Die Mutter, ihr Kind wie unter ihrem Flügel geborgen, macht mit einer Geschichte Mut und gibt Hoffnung liebt.“
Damit lässt sich arbeiten. Einen Moment noch studiere ich die Körpersprache der Beiden, um mir das Bild möglichst sorgfältig einzuprägen. Bemerke die Unterschiede, entdecke die Dopplungen. Stichworte erfüllen nun mein Sichtfeld; bedecken die Kleidung, dann auch die Gesichter der Betrachteten. Überlagern und ersetzen sie. Plötzlich schaue ich auf eine Wortzeichnung. Ohne meinen Blick zum Papier zu senken, aus Angst, das Wortgeflecht zu zerreißen, wiederhole ich es stumm, bis ich es verinnerlicht habe. Schließlich wage ich mich, den Blick zur Hand wandern zu lassen, und sehe mir, wie unbeteiligt, beim Schreiben zu.
„Die Mutter, ihr Kind wie unter ihrem Flügel geborgen, liebt. Der kleine Körper strebt zu seinem Ursprung zurück,
drückt sich an ihre Haut; verstrickt sich in ihren Haaren.
Sie drohen zu verschmelzen, bis die Symmetrie der Spiegelung gebrochen wird durch eine
Geste, deren Ursprung fremd, womöglich in sich selbst, liegt.
Vom Eigenständigen eingenommen, löst die Mutter ihren Blick vom Buch und betrachtet jenes in ihrer Tochter, was sie nie war.
Es ist, als schaue sie in einen Fluss, dessen Oberfläche Kreise zieht.“
Als ich den Füller schließe, bemerke ich ihr Verschwinden. Hastig schaue ich mich um und entdecke sie in der Menschenmenge auf dem Bahnsteig zu meiner Linken. Das Mädchen trägt jetzt Schal und Mütze. Unsere Blicke kreuzen sich, und spontan empfinde ich den Drang, ihr zuzuwinken. Ich gebe nach. Sie mustert mich mit schiefgelegtem Kopf und erwidert dann den Gruß. Im nächsten Augenblick ist sie, von einer sorgsamen Hand gezogen, im Bahnhofsinnern verschwunden. Alleingelassen sinke ich in meinem Sessel zurück und schließe meine müden Augen.